Wanganui, Februar 1864
Matui hielt sich hinter einem Kowhaibaum versteckt und beobachtete, wie die beiden Frauen das Haus verließen. Ein prächtiges Haus, wie er zugeben musste, dem der Hobsens nicht ganz unähnlich, nur viel größer.
Für einen kurzen Augenblick kamen Zweifel in ihm auf, ob er seinen Racheplan wirklich in die Tat umsetzen sollte. Das lag an seiner Begegnung mit dem Mädchen. Diese hatte ihn mehr berührt, als er zugeben wollte. Sie sah Makere zwar in keiner Weise ähnlich, aber vom Wesen her erinnerte sie ihn sehr an seine Schwester, bevor sie verrückt geworden war. Die Vorstellung, dass Henry jener Mann war, der Makere das Unvorstellbare angetan hatte, ließ ihn erschaudern. Aber war dessen Tod so wichtig, dass er in Kauf nahm, dieser jungen Frau, seiner eigenen Nichte, damit womöglich großen Kummer zu bereiten? Er wollte ihr auf keinen Fall wehtun. Doch dann ganz plötzlich kippte seine Stimmung, und der Hass schoss durch seinen Körper wie ein Feuerball, der alles verbrannte, was sich ihm in den Weg stellte. Er muss sterben, er muss!, beschloss Matui. Und er konnte das Mädchen nicht vor der Wahrheit schützen. Im Gegenteil, sie musste erfahren, was ihr Vater getan hatte. Es wäre doch ungeheuerlich, sie ausgerechnet im Haus des Mannes leben zu lassen, der seiner Schwester diesen entsetzlichen Schmerz zugefügt hatte. Ganz allmählich begriff er auch, dass Makere ihr Kind dem Ziehvater niemals freiwillig gegeben hatte. Nein, er musste es sich genommen haben. Gegen ihren Willen. Das Beste wird sein, wenn ich meine Nichte davon überzeuge, mir nach Kaikohe zu folgen, durchfuhr es ihn. Auch wenn sie nicht so aussieht, es fließt das Blut meiner Schwester in ihren Adern. Sie ist eine Maori. Dieser Gedanke ließ Matuis Herz höher schlagen. Ja, sie gehört zu uns, nicht in das Haus des Vergewaltigers ihrer Mutter, und ich werde sie nach Hause bringen.
Nun hielt Matui nichts mehr zurück. Er straffte seine Schultern und betrat energischen Schrittes die weiße Veranda. Ihn fröstelte. Die hölzernen Verzierungen waren exakt dem Haus der Hobsens in Russell nachempfunden. Er klopfte forscher an die Tür als beabsichtigt. Er erschrak, als ihm eine unförmige ältere Frau mit einem teigigen Gesicht die Tür öffnete. Das war doch nicht etwa ... ? Er konnte den Gedanken gar nicht zu Ende denken, weil June ihm nun gerührt die Hand entgegenstreckte.
»Matui, bist du es wirklich? Komm herein! Ich hätte dich kaum erkannt mit deinen ...« Sie deutete auf das Tattoo in seinem Gesicht.
Er nickte, ohne ihre Hand zu ergreifen, und folgte ihr stumm ins Haus.
»Was führt dich zu uns?«, fragte June und lächelte ihn an. Matui wollte bei diesem Anblick schier das Herz brechen. Sie war nie eine Schönheit gewesen, aber das? Er kannte viele Frauen in Kaikohe, die dick waren, aber sie waren es, weil sie das Essen liebten. Sie hatten schöne Gesichter und strahlten Lebensfreude aus. June hingegen war es zweifelsohne anzusehen: Das pure Unglück hatte sie dermaßen unförmig werden lassen.
»Ich suche Henry«, erklärte er mit belegter Stimme.
»Das tut mir leid, aber er ist...« June unterbrach sich und fuhr hastig fort: »Er ist gerade nicht im Haus. Doch sag mal, wie ist es dir in all den Jahren ergangen? Und wie geht es Maggy ? Das letzte Mal, als ich sie traf, war sie sehr sonderbar.«
»Was meinst du damit? Sie war sonderbar?«, fragte Matui, während ihm das Herz bis zum Hals klopfte. Es drängte sich ihm jener Verdacht auf, der ihn die ganze Zeit über beschlichen hatte. June war unschuldig und ahnte weder etwas von dem Verbrechen ihres Mannes noch wer das Mädchen wirklich war, das in ihrem Haus lebte.
»Na ja, als ich sie das letzte Mal traf, hatte sie ein hellhäutiges Kind, meine spätere Tochter, auf dem Arm und verhielt sich ganz merkwürdig, als ich ihr das Baby für einen Augenblick abnehmen wollte ...« June rang nach Atem. Sie konnte nicht weitersprechen, sondern musste erst einmal Luft holen.
»Erzähl weiter!«, forderte Matui sie unwirsch auf.
»Sie rannte vor uns weg ...«
»Wer war das ? Vor uns?«
»Vater und ich, also mein Schwiegervater und ich. Der arme Walter war damals ja ganz krank vor Kummer über den Tod seiner Frau ...« Sie stockte und wurde rot.
Matui hatte äußerste Mühe, seine Ungeduld zu verbergen. »Ich weiß, dass er mir die Schuld daran gab, aber ich hatte nichts damit zu tun. Mutter war zwischen die Linien geraten.«
»Ja, schon, doch sie hatte das Haus meiner Eltern verlassen, um dich zu suchen, weil sie dich nicht verlieren wollte.«
Matui merkte, wie nahe ihm ihre Worte gingen, doch er zeigte ihr seine Verunsicherung nicht, sondern forderte sie auf, ihm rasch weiter von der Begegnung mit seiner Schwester zu erzählen.
»Maggy ist in Panik fortgerannt. Mit dem fremden Kind auf dem Arm.«
»Wieso bist du dir so sicher, dass es ein fremdes Kind war?«
»Das Mädchen war blass und hatte rotblondes Haar. Das konnte niemals ihr eigenes sein. Ich meine, du weißt doch auch, dass sie damals selbst noch ein Kind war.«
Matui ballte die Fäuste. Und ob ich das weiß, dass sie noch ein Kind war, als sich dieses Schwein an ihr vergangen hat, durchfuhr es ihn eiskalt.
»Ich habe Vater dann gebeten, sich zu erkundigen, ob das Kind Eltern hat, weil ich doch so gern ein Kind adoptieren wollte.«
»Dann ist die junge Frau, die ich eben in Begleitung von Ripeka getroffen habe, also wirklich deine angenommene Tochter?«, unterbrach Matui sie scharf.
June begann zu schnaufen. »Du hast Lily gesehen? Bitte, versprich mir, dass du ihr nicht verrätst, dass ich ... du weißt schon, dass ich keine Kinder bekommen kann.«
Matui erinnerte sich noch genau an das Gespräch zwischen seiner Ziehmutter und June damals im Haus der Hobsens.
»Sie glaubt also, sie sei euer Kind. Aber bitte sag mir noch: Wie hast du denn überhaupt herausgefunden, dass sie ein Waisenkind war? Oder hatte es vielleicht eine Mutter, der ihr es einfach fortgenommen habt?«
June wurde weiß wie eine Wand. »Matui, bist du wahnsinnig? Wie kommst du auf so eine Gemeinheit? Nein, Vater wusste, dass es ein Waisenkind war, und ist zu Bella Mortons Haus geeilt, um ihr anzubieten, dass wir es gleich mitnehmen.«
»Gleich mitnehmen?«
»Ja, Vater kam wenig später mit der Kleinen zurück, und dann sind wir auch gleich aufgebrochen. Henry war ja auf der Hazard, und Vater meinte, wir sollten lieber nach Auckland reisen, bevor Hone Hekes Leute auch noch Te Waimate überfallen würden.«
Matui ließ sich stumm auf einen Stuhl fallen und schlug die Hände vor das Gesicht.
»Was ist mit Maggy? Lebt sie noch?«, fragte June leise.
Zögernd blickte der Maori auf. Er sah zermartert und um Jahre gealtert aus.
»Sie ist vor ein paar Wochen des Nachts in einen Fluss gegangen.«
»Das ist ja entsetzlich!«, schrie June auf.
»Wir fanden ihren Körper weiter unten am Ufer. Zerschmettert von den Steinen, ihr schwarzes Haar um einen Baumstumpf gewickelt wie ein Band ...«
Nun ließ sich auch June auf einen Stuhl fallen und stöhnte immerzu: »Nein, das kann doch nicht sein! Warum... O nein, wir hätten sie damals mitnehmen sollen, aber Vater wollte es nicht. Er sagte, er könne sie nicht mehr sehen, weil er dann immer an dich...«
»Schon gut, ich weiß, was du sagen willst«, unterbrach Matui sie und fuhr hastig fort: »Sie war längst gestorben, als sie ins Wasser ging.«
»Wie meinst du das?«
»Damals vor neunzehn Jahren, an dem Tag, als ihr Ziehvater ihr das eigene Kind entriss und es dir als Waisenkind verkaufte, an dem Tag, da ist sie gestorben. Sie hat nie wieder ein Wort gesprochen, bis auf den Abend, bevor sie es tat. Da hörte ich sie in ihrem Zimmer laut stöhnen. Ich verstand nur Brocken. Vater, Schuld, Schwur, Strafe. Aber inzwischen ahne ich, was das zu bedeuten hatte. Wahrscheinlich gab sie sich die Schuld an all dem Übel, das ihr widerfahren war.«
»Matui, wovon sprichst du?«, fragte June mit bebender Stimme.
»Hast du dich nie gefragt, warum dein Kind Emily wie aus dem Gesicht geschnitten ist?«
»Nein... ja, aber sie war eben ein fremdes Kind, und viele Engländerinnen sehen so aus...«
»Sie war ihr Kind, June, Makeres und ... seine Tochter.«
June hielt sich die Ohren zu. »Ich will nichts mehr hören!«, schrie sie verzweifelt auf. »Geh jetzt!«
Matui aber blieb sitzen und durchbohrte June förmlich mit seinen Blicken, bis sie endlich ihre Arme sinken ließ. Sie seufzte, bevor sie hervorstieß: »Aber warum hat Henry nie ein Wort gesagt, dass sie seine Tochter ist? Warum, verdammt noch mal, hat er sie all die Jahre wie eine Fremde behandelt? Er hat ihr alles gegeben, was sie brauchte, nur keine Liebe. O Gott, warum?«
»Er weiß nicht, dass sie seine Tochter ist.«
»Aber ... aber das kann doch nicht sein ... das ist doch ... ich meine...«
»Es genügte, dass offenbar Walter und Emily davon wussten und Maggy rechtzeitig in Te Waimate verstecken konnten, damit eurer Hochzeit kein Hindernis im Weg stand ...«
»O Gott, bitte lass das alles nicht wahr sein! Bitte, Matthew ...« Dicke Tränen rannen June die Wangen hinunter. »Ich habe sie doch so lieb«, schluchzte sie.
Matui kämpfte gegen das Mitleid an, das er für sie empfand. So war es schon damals gewesen. June Hobsen war eine ehrliche Seele, deren Leben von der Gier, der Trunksucht, der Gefühlskälte und der Faulheit eines Henry Carrington und der Skrupellosigkeit seiner Eltern zerstört worden war. Auch der von Emily! Zum ersten Mal seit ihrem tragischen Tod verspürte er auch einen Zorn gegen sie aufkeimen. Er hätte gern gewusst, wer von den Eheleuten bei diesem Teufelswerk die treibende Kraft gewesen war. Es war einfach unfassbar, dass sie nicht nur die Untat ihres Sohnes vertuscht, sondern Maggy auch noch ihres Kindes beraubt hatten. Wie hatten sie nur so grausam sein können? Auch gegenüber der armen June hatten sie sich damit schuldig gemacht.
Sie scheint immer noch unter Schock zu stehen, schloss er aus ihrem versteinerten Gesichtsausdruck. Und trotzdem durfte er sich nicht länger von derartiger Gefühlsduselei leiten lassen. Makeres Tochter gehörte nicht hierher! Sie gehörte zu seinem Volk, in sein Dorf, und dahin würde er sie bringen, wenn er das hier erledigt hätte. Erst würde sein Ziehbruder dafür büßen, dann der scheinheilige Missionar.
»Wo ist Henry?«
»Aber was... was willst du von ihm ? Ich ... ich verspreche dir, ich sage ihm, dass es seine Tochter ist. Dann wird alles gut.«
»Nein, June, gar nichts wird gut. Außer dass es ihn daran erinnern wird, was er meiner Schwester Schauderhaftes angetan hat. Oder glaubst du etwa, sie hat sich ihm freiwillig hingegeben?«
»Nein!«, schrie June. »Nein, du lügst! Du willst Zwietracht säen. Du willst dich an Vater rächen, weil er dich verstoßen hat.«
»Ja, dem feinen Reverend werde ich auch noch einen Besuch abstatten, denn er hat wahrscheinlich genau gewusst, was sein charakterloser Sohn angerichtet hat. Wo ist er? Lebt er auch hier in Wanganui?«
»Er ist tot. Friedlich in seinem Bett eingeschlafen. Er ist seit damals nie wieder der Alte geworden. Er war hart und ungerecht, aber er hat meine Tochter über alles geliebt. Und bei uns hat sie ein unbeschwertes Leben geführt. Hätte sie das bei Maggy gehabt?«
»Und deshalb heißt du es gut, dass man der Mutter ein Kind fortnimmt und es in das Haus des Mannes gibt, der ihrer Mutter Gewalt angetan hat?«
»Woher willst du das wissen? Das ist nur eine bösartige Unterstellung. Wir haben doch alle gewusst, dass sie ihn angehimmelt hat.«
Matui zuckte es in der Hand. Er war versucht, June für diese Bemerkung eine Ohrfeige zu verpassen. Sein Mitleid war wie verflogen. Übrig geblieben war nur noch der blanke Hass auf diese ganze Sippe. Sollten sie dafür allesamt in der Hölle schmoren! Und deshalb war er entschlossen, ihr doch nicht zu ersparen, was er eigentlich hatte für sich behalten wollen, nämlich auf welche Weise er von Henrys Verbrechen erfahren hatte und was er nun zu tun gedachte.
»Mein Freund Tiaki wollte Makere heiraten, obwohl sie ihm die ganze grausame Wahrheit gestanden hatte. Doch bevor er das Kind und sie in sein Dorf bringen konnte, wurde er von Rotröcken erschossen. Ich habe nur einen Streifschuss abbekommen, aber er lag da mit einer Wunde, aus der das Blut wie aus einer Fontäne hervorsprudelte. Er bat mich, die Tat zu rächen, die an Makere verübt worden war. Sie hatte ihm nicht verraten, wer ihr das angetan hatte, aber ich versprach ihm, ihn zu finden und seinen letzten Wunsch zu erfüllen.«
»Aber wenn es nun ein anderer war«, schluchzte June.
»Dann wäre Lily ihrer Großmutter nicht wie aus dem Gesicht geschnitten«, erwiderte Matui ungerührt. »Wo ist er?«
June schwieg eisern. Matui aber sprang auf, packte sie bei den Schultern und schüttelte sie. »Ich tue es auch für dich! Er hat nicht nur das Leben meiner Schwester zerstört, sondern auch meins und deins. Schau dich doch nur an! Was ist übrig geblieben von der freundlichen, immer lächelnden June Hobsen, die nie eine Schönheit war, nach der sich die Männer verzehrt hätten, aber eine lebensfrohe junge Frau, die sich nur eines von Herzen wünschte: eine Familie? Und was hat sie bekommen? Ein gestohlenes Kind und einen Mann, der sie niemals wertschätzen konnte. Einen Mann, der von einem schmalen, dunkelhäutigen Mädchenkörper und verschreckten großen braunen Augen träumte, wenn er seine ehelichen Pflichten erfüllte. Der davon zehrte, wie sich seine kleine Schwester gewehrt hat, der schamlos ausgenutzt hat, dass sie in ihn vernarrt war. Ja, sie war verliebt in ihn, und vielleicht hat sie ihn sogar in ihr Zimmer gelassen, aber trotzdem hat er ein Verbrechen begangen. Und ich schwöre dir, ich werde nicht ruhen, bis ich sie gerächt habe. Und glaub mir, wenn der Reverend noch lebte, er müsste dafür büßen, ihr das Kind zu entreißen, um es im Haus ihres Peinigers unterzubringen ...«
Während seiner beschwörenden Worte hatte Matui gefährlich die Augen gerollt, und jetzt redete er in einer Sprache auf June ein, die sie nicht verstand. Sie hielt sich abermals die Ohren zu.
»Matthew, bitte hör auf! Er ist in Russell, will das Strandhaus meines Vaters in Oneroa verkaufen. Er hat endlich einen Käufer gefunden. Einen Geschäftsmann aus Thames, der demnächst nach Russell geht!«, schrie sie verzweifelt.
Matui verstummte und blieb wie betäubt stehen. Dann ging er zu ihr und strich ihr flüchtig über das ergraute Haar. »Ich komme wieder, um Lily zu holen«, raunte er. »Du wirst genug Zeit haben, ihr zu erklären, zu wem sie gehört«, ergänzte er, bevor er ohne ein weiteres Abschiedswort aus dem Zimmer stürmte.
Lily gehört mir, dachte June entschlossen, während sie am ganzen Körper bebte. Ich werde verhindern, dass du sie jemals wiedersiehst, Matthew Carrington! Doch bevor sie darüber nachgrübeln konnte, wie sie das wohl anstellen sollte, riss ein Schmerz in ihrer Brust sie aus ihren Gedanken. Sie stöhnte auf und griff sich ans Herz. Ich darf nicht sterben, sprach sie sich gut zu, ich darf nicht sterben. Noch nicht!